Die Vertäubung bei der Tonaudiometrie
Inhaltsverzeichnis
3. Grundlegende Vorbemerkungen
4. Die vier Indikationsregeln zur Vertäubung
1. Einleitung
Das Überhören von Signalen bei der Messung von Hörschwellen mit Tönen über die Luft- bzw. Knochenleitung ist ein Phänomen, das der normalhörende Mensch bei Selbstversuchen so nicht kennt. Bei der Audiometrie von hörbeeinträchtigten Menschen jedoch wird das Überhören der Signale in das „falsche“ bzw. Gegenohr zu einem Problem, insbesondere wenn ein seitendifferentes Hörvermögen vorliegt.
Obwohl der eigentliche Hörvorgang zentral mit den Informationen beider Ohren erfolgt, bestimmt der Hörakustiker bei einer Audiometrie das Hörvermögen jedes einzelnen Ohres getrennt voneinander. Dies ist notwendig, da die Einstellung und Anpassung von Hörsystemen nach heutigem Stand der Technik für jedes Ohr getrennt erfolgt (Gesamtverstärkung ausgenommen). Somit muss dem Vorgang des Überhörens mit Hilfe der Vertäubung des anderen Ohres entgegen gewirkt werden.
2. Allgemeines
Wenn man sich verschiedene Veröffentlichungen zu diesem Thema anschaut, wird man feststellen, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Vertäubung gibt. Einige seien hier genannt:
- Vertäubung mit festen Pegeln
- Gleitende Vertäubung:
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- Nachmessen mit Vertäubungsgeräusch, z.B. mit vorlaufendem Rauschen, nachlaufendem Rauschen oder synchron mitlaufendem Rauschen
- Vorbeugende/prophylaktische Vertäubung, z.B. mit synchron mitlaufendem Rauschen.
Jedes dieser Verfahren hat auch eigene Durchführungsmodalitäten, welche das theoretische Verstehen des Überhörens und die praktische Vertäubung zur Unterdrückung dieses Phänomens nicht unbedingt erleichtern. Als Hilfestellung legt diese Broschüre die Regeln des Überhörens dar und beschreibt eine geeignete Vorgehensweise in der Praxis.
3. Grundlegende Vorbemerkungen
Bevor die Regeln des Überhörens dargelegt werden und eine praktikable Vorgehensweise für das Vertäuben erläutert wird, sind folgende Randbedingungen bzw. Vorüberlegungen von Bedeutung:
- Das Überhören geschieht immer auf dem Knochenleitungsweg, unabhängig davon, ob der Schall primär über die Luftleitung (LL) oder die Knochenleitung (KL) angeboten wird.
- Es gibt nur ein Überhören vom Ohr mit der schlechteren Knochenleitung zum Ohr mit der besseren Knochenleitung, also der besseren Innenohrfunktion.
- Ist von vornherein eine deutliche Seitendifferenz der Hörschwellen bekannt bzw. erkennbar (z.B. durch das Muster 15, vorliegende Patientenunterlagen oder durch Erkenntnisse aus dem audiologischen Vorgespräch und der Otoskopie), so sollte zunächst das besser hörende Ohr komplett gemessen werden. „Komplett messen“ bedeutet: Bestimmung der Hörschwellen über Luftleitung und Knochenleitung sowie der Unbehaglichkeitsgrenze. Damit ist die Grundlage geschaffen, die Hörschwellen des schlechteren Ohres schneller und einfacher zu ermitteln, da folgende Fragen eindeutige Informationen liefern:
- Bei welchen Pegeln könnte bei der Luftleitung und der Knochenleitung überhört werden (Ausnahme siehe unten Regel 1)
- Auf welche Startpegel müssen die Vertäubungspegel eingestellt werden?
- Wie weit dürfen die Vertäubungspegel erhöht werden, damit nicht die Unbehaglichkeitsgrenze erreicht wird?
- Bei den Messungen über die Knochenleitung müssen die Fühlschwellen bekannt sein und beachtet werden [1]:
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- 125Hz: 15dB
- 250Hz: 30dB
- 500Hz: 45dB
- 1000Hz: 60-70dB
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- Zu beachten: Es sollen keine Fühlschwellen unter Vertäubung überprüft werden bzw. in Fühlschwellen hineinvertäubt werden (siehe Abbildung 1).
- Ebenso sollte der Akustiker die Leistungsgrenzen des Audiometers, insbesondere für die Knochenleitung kennen. Es sollte keine Vertäubung begonnen werden, wenn erkannt wurde, dass die Leistungsgrenze erreicht oder unmittelbar erreicht wird (siehe Abbildung 1).
- Wichtig: Die angegebenen Richtwerte und Regeln gelten für Flachmuschelhörer (DT 48/TDH39) und Knochenleitungshörer (B 71).
4. Die vier Indikationsregeln zur Vertäubung
Regel 1
Der Kunde gibt nach einer optimalen Einweisung an, dass er die Luft- oder Knochenleitungssignale in das Gegenohr (besseres Ohr) überhört.
Unabhängig von Regeln und Lehrbuchmeinungen muss eine Vertäubung erfolgen, wenn der Kunde angibt, dass er das Messsignal auf dem nicht zu messenden Ohr wahrgenommen hat. Somit gehören zu einer „optimalen Einweisung“ bei der Luftleitungsmessung der Hinweis auf die Überhörmöglichkeit und bei der Knochenleitungsmessung die Hinweise zum Überhören und zum Fühlen der Messsignale.
Regel 2
Die Knochenleitungswerte des schlechteren Ohres weichen um 10d oder mehr von den Knochenleitungswerten des besseren Ohres ab
und die Differenz zwischen KL und LL auf dem Messohr ist ≥ 15dB (siehe Abbildung 2).
Regel 3
Die Luftleitungswerte des schlechteren Ohres weichen um 50dB oder mehr von den Knochenleitungswerten des besseren Ohres ab (siehe Abbildung 3).
Regel 4
Bei Vorliegen eines „dubiosen“, d.h. nicht erwarteten Schallleitungsanteils (SL-Anteil) von 15dB oder mehr auf dem schlechteren Ohr – selbst wenn Vertäubungsregel 2 nicht erfüllt ist (siehe Abbildung 4 sowie insbesondere Abbildung 5).
Erläuterung: Ein „nicht erwarteter Schallleitungsanteil“ bedeutet, dass weder durch das audiologische Vorgespräch noch durch die Otoskopie von einer kombinierten Schwerhörigkeit ausgegangen werden kann (es wird eine Schallempfindungsschwerhörigkeit erwartet), diese sich jedoch audiometrisch darstellt. In so einem Fall muss eine Abklärung unter Vertäubung erfolgen.
5. Vorgehensweise am Beispiel der vorbeugenden/ prophylaktischen Vertäubung mit synchron mitlaufendem Rauschen
Im Folgenden werden exemplarisch für eine Frequenz die einzelnen Phasen für den Ablauf einer praxiserprobten Vertäubung beschrieben. Vorab folgende Hinweise:
- Bei einer bekannten Asymmetrie des Gehörs: besseres Ohr komplett (Luftleitung, Knochenleitung, U-Grenze) messen
- Optimale Einweisung zur Messung des schlechteren Ohres (siehe Regel 1).
Phase I: Messung der Luftleitung auf dem schlechteren Ohr
Möglichkeit 1:
Pegelerhöhung bis der Kunde angibt, dass er das Signal auf dem Gegenohr wahrnimmt (Regel 1), d.h. Pegeldifferenz kleiner 50dB zu besserer Knochenleitung
Möglichkeit 2:
Eine Pegeldifferenz von 50dB zur besseren Knochenleitung des Gegenohres wird erreicht. An dieser Stelle sind 3 Aussagen möglich (siehe auch Abbildung 6):
-
- Kunde gibt an, das Signal auf dem Messohr zu hören
- Kunde gibt an, das Signal auf dem Gegenohr zu hören
- Kunde gibt an, das Signal gar nicht zu hören.
Achtung: Egal welche Aussage getätigt wurde, die weitere Vorgehensweise muss unter Vertäubung erfolgen.
Das Messsignal wird zunächst abgeschaltet.
Möglichkeit 2:
Eine Pegeldifferenz von 50dB zur besseren Knochenleitung des Gegenohres wird erreicht. An dieser Stelle sind 3 Aussagen möglich (siehe auch Abbildung 6):
-
- Kunde gibt an, das Signal auf dem Messohr zu hören
- Kunde gibt an, das Signal auf dem Gegenohr zu hören
- Kunde gibt an, das Signal gar nicht zu hören.
Achtung: Egal welche Aussage getätigt wurde, die weitere Vorgehensweise muss unter Vertäubung erfolgen.
Das Messsignal wird zunächst abgeschaltet.
Phase II: Vorgehensweise bei einer Vertäubung
Zunächst wird der Kunde eingewiesen.
Schritt 1:
Rauschpegel einschalten und auf dem besseren Ohr bis zur Luftleitungshörschwelle erhöhen.
Achtung: Nachfragen, ob das Rauschen wahrgenommen wird!
Schritt 2:
Falls Antwort „ja“: Rauschpegel auf 20dB (SL) erhöhen
Falls Antwort „nein“: Rauschpegel bis zur Geräuschhörschwelle erhöhen. Dann von dort ausgehend 20dB (SL) einstellen.
Schritt 3:
Einstellen des Messsignals auf den kritischen Pegel (siehe Phase I).
Wurde vom Kunden ein Höreindruck ohne Vertäubung angegeben (siehe Phase I), so gibt es an dieser Stelle 2 Aussagemöglichkeiten:
-
- Das Signal ist immer noch hörbar
- Das Signal ist nicht mehr hörbar.
Bei Aussage 1 kann der Höreindruck als richtig gewertet und der Signalpegel zusammen mit dem Rauschpegel abgespeichert werden.
Bei Aussage 2 werden dann das Messsignal und das Rauschsignal synchron erhöht. Dies geschieht solange, bis das Signal wahrgenommen wird. In dem Fall wird das Signal auch immer auf dem Messohr gehört. An dieser Stelle wird ebenfalls der Signalpegel zusammen mit dem Rauschpegel abgespeichert.
Ausnahme: Das Rauschsignal kommt in den Bereich der U- Grenze des Gegenohres (vertäubtes Ohr). Dann muss die Messung abgebrochen werden, auch wenn das Signal noch nicht (auf dem Messohr) wahrgenommen wurde.
Schritt 4:
Auswahl der nächsten Frequenz und Start bei Phase I.
Phase III: Messung der Knochenleitung auf dem schlechteren Ohr
Bei der Ermittlung der Knochenleitungs-Hörschwelle wird in gleicher Art und Weise vorgegangen, jedoch beträgt der „vertäubungsfreie“ Differenzwert zwischen den Knochenleitungen maximal 10dB (siehe Regel 2 und auch Abbildung 6).
Ebenso wird der Startrauschpegel mit 20dB (SL) über der Luftleitungshörschwelle bzw. 20dB über der Geräuschhörschwelle gewählt.
6. Abschließende Bemerkungen
Die Überprüfung des Ergebnisses durch einen „Bestätigungspegel“ (Rauschpegelerhöhung um 10dB) ist nach dem oben beschriebenen Verfahren (synchrones Erhöhen von Mess- und Rauschpegel) nicht mehr erforderlich. Je nach verwendetem Messsystem besteht die Möglichkeit, das Messsignal und das Rauschsignal über eine „Lock“- oder „Synchronisation“-Funktion miteinander zu koppeln. Dies erleichtert die praktische Vorgehensweise.
Die entsprechenden Rauschpegel werden – je nach Messsystem – entweder graphisch im Audiogramm oder numerisch in einer Tabelle abgespeichert