4.6. Physiologische Messungen

In den vorherigen Abschnitten wurden Messungen der subjektiven Wahrnehmung von Testsignalen vorgestellt. Auch objektive Messungen werden genutzt, um Informationen über das Hörvermögen einer Testperson sowie die Funktion des Mittel- und des Innenohres zu erhalten. Diese objektiven Messverfahren erfordern keine aktive Beteiligung der Testperson.

In den folgenden Abschnitten werden verschiedene weitverbreitete physiologische Messverfahren vorgestellt: die akustische Immittanz, die otoakustischen Emissionen und die Hirnstammaudiometrie.

4.6.1. Akustische Immittanzmessung zur Beurteilung der Funktion des Mittelohres

Das Mittelohr ist für die Schallwellen, die zum Innenohr wandern, eine wichtige Zwischenstation. Das Mittelohr beherbert die Gehörknöchelchenkette, welche die Schwingungen vom Trommelfell an das ovale Fenster in der Schnecke weiterleitet. Damit der Schall durch das Mittelohr übertragen wird, muss die Bewegung des Trommelfells und der Gehörknöchelchenkette optimal ablaufen.

Eine Mittelohrentzündung hat oftmals einen verminderten Druck sowie Flüssigkeitsansammlungen im Mittelohr zur Folge. Otosklerose führt zu einer Fixierung des Steigbügels am ovalen Fenster, wodurch die Beweglichkeit der Gehörknöchelchenkette eingeschränkt wird. In beiden Fällen ist die Schallübertragungsfähigkeit des Mittelohres eingeschränkt, sodass es zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit kommt.

Die Funktion des Mittelohres wird mithilfe eines Immittanzmessgerätes überprüft. (Der Begriff „Immittanz“ ist recht neu und entstand aus einer Kombination der älteren Bezeichnungen „Impedanz“ und „Admittanz“.) Dazu wird eine dicht sitzende Sonde ins Testohr eingesetzt. Die Sonde sendet einen tieffrequenten Ton aus, variiert den Luftdruck im äußeren Gehörgang über eine Pumpe und ist mit einem kleinen Mikrofon verbunden, das den Schalldruckpegel im Gehörgang misst.

Prüfung der Funktion des Mittelohres mithilfe eines Immittanzmessgerätes. 1. Lautsprecher – 2. Luftpumpe – 3. Mikrofon

Ebenso wie sich der Luftdruck im Gehörgang im Verhältnis zum Druck im Mittelohr erhöht und verringert, verändert sich auch die Beweglichkeit des Trommelfells. Dies wirkt sich auf die Übertragung der Schallenergie ans Mittelohr aus, wobei der Einfluss als Veränderungen des Schalldrucks im äußeren Gehörgang gemessen werden kann.

4.6.2. Tympanometrie

Der Zusammenhang zwischen dem Luftdruck im äußeren Gehörgang und der Schallübertragung durch das Mittelohr wird in einem Tympanogramm dargestellt. Die x-Achse des Tympanogramms stellt den Luftdruck im Gehörgang im Verhältnis zum atmosphärischen Luftdruck dar, und die y-Achse zeigt die Schallübertragung durch das Mittelohr (Immittanz).

Das Tympanogramm zeigt Veränderungen der Leitfähigkeit des Mittelohres (Immittanz) als Funktion des Luftdrucks im äußeren Gehörgang bei unterschiedlichen Verfassungen des Mittelohres.

In der Regel ist die Mittelohrleitfähigkeit am besten, wenn der Druck auf beiden Seiten des Trommelfells identisch ist, d. h. bei normalem Luftdruck. Herrscht im Mittelohr Unterdruck oder ist die Beweglichkeit des Mittelohrsystems nicht gegeben, wird sich dies im Tympanogramm im Allgemeinen widerspiegeln.

4.6.3. Messung des Stapediusreflexes

Das Immittanzmessgerät wird ebenfalls zur Messung des Stapediusreflexes verwendet. Beim Stapediusreflex vermindert der Steigbügelmuskel bei hohen Pegeln die Schallübertragung durch die Gehörknöchelchenkette und das Trommelfell – in der Regel bei Schallpegeln zwischen 80 und 110 dB HL. Siehe Abschnitt „Der Stapediusreflex“ in Kapitel 2 „Das auditive System“ für eine detailliertere Beschreibung.

Zur Messung des Stapediusreflexes wird wiederum eine Sonde verwendet, die einen Testton aussendet. Wenn der Stapediusreflex ausgelöst wird, reduziert dies die Beweglichkeit des Mittelohrsystems. Diese Auswirkung ist als erhöhter Schalldruck des Sondentons im Gehörgang messbar.

Normalerweise wird der Stapediusreflex in beiden Ohren simultan ausgelöst – unabhängig davon, in welches Ohr der Ton eingespielt wird. Dieser Umstand lässt sich bei der Stapediusreflexmessung ausnutzen, indem man das eine Ohr stimuliert und den Reflex im anderen Ohr misst. Man spricht dann von einer kontralateralen Stimulation.

Kontralaterale Stimulation bei der Stapediusreflexmessung.

Im Audiogramm sind die durch kontralaterale Stimulation ausgelösten Reflexe eingetragen. Bei Stimulation des rechten Ohres ist der Reflex mit einem • eingezeichnet, bei Stimulation des linken Ohres mit einem *. Ein Pfeil, der vom Symbol nach unten zeigt, bedeutet, dass kein Reflex ausgelöst wurde. Zu beachten ist, dass die grafischen Symbole länderspezifisch anders aussehen können.

Der Stapediusreflex wird bei Schallpegeln zwischen
80 und 110 dB HL ausgelöst. Wenn sich der Steigbügelmuskel zusammenzieht, wird auf die Gehörknöchelchenkette und das Trommelfell Spannung ausgeübt. Dies vermindert die Schallüber- tragung durch das Mittelohr. Das Immittanzmessgerät registriert diesen Effekt als eine plötzliche Veränderung des Schalldrucks
im äußeren Gehörgang. Das Audiogramm zeigt, dass der Reflex in beiden Ohren bei 500 und 1.000 Hz ausgelöst wurde, während es bei 2 und 4 kHz zu keiner Reflexauslösung kam.

4.6.4. Otoakustische Emissionen

Ende der 1970er Jahre entdeckte der britische Physiologe David Kemp, dass das Innenohr die Fähigkeit be- sitzt, schwache Schallsignale auszusenden, welche von einem Mikrofon, das im äußeren Gehörgang angebracht ist, aufgefangen werden können. Diese Schallsignale, genannt otoakustische Emissionen (OAE), treten entweder spontan auf (spontane otoakustische Emissionen, SOAE) oder als Reaktion auf einen Ton, der ins Ohr eingespielt wird (evozierte otoakustische Emissionen, EOAE).

Man geht davon aus, dass die Emissionen ein Nebenprodukt des aktiven Mechanismus in den äußeren Haarzellen in der Schnecke darstellen.

Forschungsergebnisse zeigen, dass die otoakustischen Emissionen bei Schädigung der äußeren Haarzellen, z. B. durch Pharmazeutika, teilweise oder vollständig verschwinden. Zur EOAE-Messung gibt es zwei bedeutende Verfahren. Bei beiden werden die Emissionen hervorgerufen, indem das Ohr durch Schall stimuliert wird. Jedoch unterscheiden sich die beiden Verfahren in der Art des verwendeten Reizes:

  • Transitorisch evozierte otoakustische Emissionen (TEOAE), bei denen die kochleäre Reaktion ausgelöst wird, indem das Ohr durch einen akustischen Klick- oder Tonimpuls stimuliert wird.
  • Distorsionsproduzierte otoakustische Emissionen (DPOAE, auch Verzerrungsprodukte genannt), bei denen das Ohr durch zwei Sinustöne stimuliert wird, deren Frequenzen nah beieinander liegen.

Zwei Messungen transitorisch evozierter otoakustischer Emissionen: (A) zeigt eine normale OAE-Messung, die auf eine normale kochleäre Funktion hindeutet. (B) zeigt keine OAE, was auf eine Hörminderung hindeutet.

Durch eine vielfältige Analyse der kochleären Reaktion erhält man Informationen über das Auftreten der Emissionen bei den einzelnen Frequenzen und somit über die sensorische Funktion der Haarzellen in diesem Bereich der Basilarmembran.

Die Messung otoakustischer Emissionen dient oftmals als Ergänzung anderer audiometrischer Tests. Otoakustische Emissionen haben sich als nützlich erwiesen, da sie Veränderungen der kochleären Funktion aufzeigen können, bevor eine Hörminderung im Reinton-Audiogramm sichtbar wird. So kann die Messung otoakustischer Emissionen z. B. genutzt werden, um zu überwachen, ob eine medikamentöse Behandlung einen toxischen Effekt auf das Gehör des Patienten hat.

Otoakustische Emissionsmessungen werden in einigen Ländern auch als Hörscreening bei Neugeborenen verwendet. Das Fehlen otoakustischer Emissionen kann ein Hinweis darauf sein, dass das Kind an einer Schallempfindungsschwerhörigkeit leidet. An das OAE-Ergebnis anschließend sind jedoch weitere Hörprüfungen notwendig, um eine eventuell vorhandene Hörminderung zweifelsfrei diagnostizieren zu können.

4.6.5. Hirnstammaudiometrie mit akustisch evozierten Potenzialen

Wenn das Ohr auf Schall reagiert, ist dies als elektrische Aktivität im Gehirn messbar. Wurde ein Schallsignal im Innenohr in Nervenimpulse umgewandelt, wird es über den Hörnerv und verschiedene Nervenkerne im Hirnstamm weitergeleitet. Jedes Mal, wenn das Signal einen dieser Nervenkerne passiert, entsteht elektrische Aktivität, welche an der Kopfhaut der Testperson gemessen werden kann.

Die gängigste Methode zur Messung elektrischer Aktivität ist die Hirnstammaudiometrie, d. h. die Messung akustisch evozierter Hirnstammpotenziale (engl. Auditory Brainstem Response, abgekürzt ABR, bzw. Brainstem Evoked Response Audiometry, abgekürzt BERA). Dazu werden Elektroden mit elektrisch leitendem Material am Kopf der Testperson befestigt. Üblicherweise wird eine Elektrode an der Stirn und jeweils eine hinter den beiden Ohren angebracht, entweder am Mastoidknochen oder am Ohrläppchen.

Das auditive System wird durch eine Reihe von akustischen Reizen z. B. Klicks, die über den Kopfhörer eingespielt werden, stimuliert. Sendet der Hörnerv elektrische Impulse aus, wird der Unterschied der Potenziale an der Elektrode an der Stirn und der Elektrode auf dem Mastoidknochen oder dem Ohrläppchen gemessen.

Die Potenzialdifferenz ist sehr klein verglichen mit zufälligen, z. B. durch Muskelaktivität ausgelösten, elektrischen Potenzialen im Körper. Abhilfe verschafft das Mittelungsverfahren mit zahlreichen Messwiederholungen und der Berechnung eines Mittelwerts, wodurch die Spannungsspitzen deutlicher dargestellt werden.

Die Amplitude der elektrischen Impulse vom Hirnstamm wird als Spitzen entlang einer Zeitachse dargestellt. Eine typische Reaktion auf einen Ton besteht aus mehreren Spitzen.

Die Reaktion des Hirnstammes wird als Spannungsspitzen – in diesem Fall mit sieben Spitzen – entlang einer Zeitachse dargestellt. Die Spitzen spiegeln die Aktivität in verschiedenen Nervenkernen im Hirnstamm wider.

Weichen die Spitzen von der normalen Form ab, sind sie zeitlich verschoben oder fehlt die Reaktion einer oder mehrerer Spitzen, kann dies auf eine auditive Störung und/oder eine Hörminderung hindeuten. Weitere Tests sollten dann durchgeführt werden. Die Hirnstammaudiometrie kann ebenfalls zur Bestimmung objektiver Hörschwellen verwendet werden. Dies ist z. B. bei Neu- geborenen oder anderen Patientengruppe von Vorteil, die an gewöhnlichen Hörtests nicht aktiv teilnehmen können. Eine Stimulation durch Tonimpulse dient dazu, frequenzspezifische Informationen über die Hörschwellen zu liefern.

Seit einigen Jahren kommt auch eine neue Messmethode zum Einsatz, die Messung stationärer akustisch evozierter Potenziale (engl. Auditory Steady State Response oder abgekürzt ASSR). Statt Klick-Signalen werden modulierte Reintöne als Reiz verwendet. Mit dieser Methode lassen sich frequenzspezifische Informationen über die Hörschwellen bei den einzelnen Frequenzen gewinnen. Außerdem macht das Verfahren den Test mehrerer Frequenzen in beiden Ohren gleichzeitig möglich, was weniger Zeit in Anspruch nimmt.

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