5.5. Von linearer zu nicht-linearer Verstärkung
Bis Anfang der 1970er Jahre war die Verstärkung in allen auf dem Markt erhältlichen Hörsystemen linear, d. h. die Verstärkung ist für alle Schallsignale, egal ob leise oder laut, gleich hoch. Dieses Prinzip findet Anwendung bei Schallpegeln bis zum maximalen Ausgangspegel. Selbst wenn das Schallsignal den maximalen Eingangspegel übersteigt, kann es nicht über den maximalen Ausgangspegel hinaus verstärkt werden.
Bei linearer Verstärkung ist die Höhe der Verstärkung für leise und laute Schallsignale dieselbe.
In den 1970er Jahren begannen Hörsystem-Hersteller mit Kompression oder automatischer Verstärkungsregelung (abgekürzt AVR, engl. Automatic Gain Control oder abgekürzt AGC) zu arbeiten, um eine nichtlineare Verstärkung zu erhalten. Mitunter wird synonym auch die Bezeichnung Automatic Volume Control oder abgekürzt AVC verwendet. Im Gegensatz zu einem linearen Verstärker, der für alle Eingangspegel immer dieselbe Verstärkung liefert, variiert die Verstärkung in einem nichtlinearen Hörsystem abhängig vom Eingangspegel.
Bei nichtlinearer Verstärkung verändert sich die Höhe der Verstärkung entsprechend dem vorliegenden Eingangspegel. D. h. die Verstärkung hängt sowohl vom Frequenzgang des Hörsystems als auch vom Eingangspegel ab. Ursprünglich wurde die Kompression vor allem bei hohen Ausgangspegeln verwendet, um Schallverzerrungen bei der maximalen Ausgangsgrenze des Hörsystems zu vermeiden (auch genannt Spitzenbeschneidung). Bei dieser Art der Kompression spricht man auch von einer Ausgangsbegrenzung.
In den ersten Hörsystemen mit nichtlinearer Verstärkung konnte die Kompression entweder ausgangsgeregelt (auch AGC-O genannt) oder eingangsgeregelt (AGC-I genannt) sein. Der Unterschied zwischen den beiden Kompressionsarten steht in Zusammenhang mit der Position des Kompressionskreislaufes im Signalweg. In einem Hörsystem mit ausgangsabhängiger Kompression (AGC-O) ist der Kompressionskreislauf nach der Lautstärkeregelung des Hörsystems positioniert. Dadurch ist die maximale Ausgangsgrenze des Hörsystems immer dieselbe, unabhängig von der Lautstärkeeinstellung, die der Träger wählt. In einem Hörsystem mit eingangsabhängiger Kompression (AGC-I) befindet sich der Kompressionkreislauf vor der Lautstärkeregelung, sodass sich der maximale Ausgangspegel verändert, wenn der Träger die Lautstärke lauter oder leiser stellt.
Die nichtlineare Verstärkung hat es möglich gemacht, Kompressionsmechanismen zu nutzen, welche die Ausgangsleistung des Hörsystems an die Schallwahrnehmung des Hörgeschädigten anpassen. Eine Schallempfindungsschwerhörigkeit geht oftmals mit einem pathologischen Lautheitsanstieg (Lautheitsausgleich, Recruitment) einher, wodurch eine bestimmte Erhöhung eines Schallpegels vom Hörgeschädigten als viel stärker empfunden wird als von Normalhörenden.
Bei einem pathologischen Lautheitsanstieg empfindet der Hörgeschädigte die Erhöhung eines Schallpegels, der knapp über der Hörschwelle liegt, als viel lauter, als Normalhörende sie empfinden.
Das Recruitment-Phänomen ist hier dargestellt. Die abgebildete Hörminderung beträgt 60 dB HL. Die Lautheitskurve bei Schallempfindungsschwerhörigkeit ist steiler als die Lautheitskurve bei normalem Gehör.
Mit linearer Verstärkung ist eine Übereinstimmung lediglich an einem Punkt der normalen Lautheitskurve möglich, im vorliegenden Fall bei einem Eingangspegel von etwa 60 dB SPL. Eingangspegel über diesem Schallpegel werden als lauter, Eingangspegel darunter als leiser empfunden, als dies bei normalem Gehör der Fall wäre. Daher müssen Träger linearer Hörsysteme in verschiedenen Hörsituationen die Lautstärkeregelung des Hörsystems häufig justieren, um einen angenehmen Schallpegel zu erzielen.
Durch eine Kompression des verstärkten Signals kann dem Hörsystem-Träger ein normales Lautstärkeempfinden besser ermöglicht werden. Man spricht dann auch von einer Lautheitsnormalisierung, wie sie auch in der Abbildung anbei dargestellt ist.
Der Ausgangspegel wird komprimiert, und die Verstärkung, angezeigt durch die graugefärbte Fläche, verringert sich mit zunehmendem Eingangspegel. Bei einem Eingangspegel von 100 dB SPL wird keine Verstärkung mehr geliefert, da hier das Lautheitsempfinden des Schwerhörigen dem Lautheitsempfinden eines Normalhörenden entspricht.
Bei dieser Art der Kompression handelt es sich um eine Wide Dynamic Range Compression (WDRC), also eine breite Dynamikbereichskompression, da sie über einen großen Teil des Eingangsdynamikbereiches wirkt.
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