Im Norden von Kopenhagen, auf der vielzitierten grünen Wiese, betreibt der dänische Hörsystemhersteller Oticon das Forschungszentrum Eriksholm. Hier erfolgt seit beinahe 50 Jahren audiologische Grundlagenforschung, die hier gewonnenen Erkenntnisse sind die Basis für die Entwicklung revolutionärer Hörsysteme im Mutterhaus. Wir blicken zurück – und in eine verheißungsvolle Zukunft.

Als das Forschungszentrum Eriksholm 1977 gegründet wird, ist die räumliche Distanz zum Mutterhaus bewusst gewählt. Man will die Forschenden nicht dem Entwicklungsdruck der Hörgeräte-Herstellung aussetzen, es soll Freiräume für neue Ideen geben. Der damalige Forschungschef zog sogar eine Parallele zum Waffenmeister „Q“ aus den James Bond Filmen, der scheinbar aberwitziges technisches Equipment entwickelte, das 007 später aber tatsächlich zum Einsatz brachte. Ähnlich sollten und sollen die „Eriksholmer“ das Undenkbare denken, um die Unterstützung für Menschen mit Hörminderung auf ein immer neues, bislang nicht für möglich gehaltenes Niveau zu heben.

Dieser Mission dient seit den 90er Jahren auch der Aufbau eines globalen Forschungsnetzwerkes von Audiolog:innen und Neurowissenschaftler:innen – damit fließt zusätzliche Kompetenz in die Entwicklungsprozesse. Bestimmend in dieser Zeit ist der Fokus auf der Forschung zu kognitiven Prozessen im Gehirn. Um herauszufinden, wie Hörsysteme arbeiten müssen, damit sie neben optimalem Sprachverstehen auch eine Leichtigkeit des Hörens ermöglichen, wird erstmals ein Konzept entwickelt, das personalisierte Signalverarbeitungen in einem Hörsystem anbietet. Heute ist die Anwendung der audiologischen Forschung rund um das Gehirn in den Oticon Hörsystemen unter dem Begriff „Brain Hearing“ allgegenwärtig. Richtungsweisend in dieser Hinsicht ist Oticon Intent, das weltweit erste Hörsystem mit 4D Sensortechnologie, basierend auf einem Deep Neural Network der zweiten Generation (DNN 2.0) sowie Audible Contrast Treshold (ACTTM), einem neuen diagnostischen Messverfahren zur Sprachverständlichkeit im Lärm.

Aktuelle Forschung in Eriksholm

Die Forschungs-Schwerpunkte von Oticon liegen auch heute auf dem „Brain Hearing“. Dabei spielen Prozesse, die im Gehirn während des Hörens stattfinden, aber noch nicht hinreichend erforscht sind, die entscheidende Rolle. Darum geht es konkret:

1. Personalisierte Audiologie

Jeder Mensch hört anders, auch wenn sich die Audiogramme gleichen. Doch die Frage, was genau die Unterschiede ausmachen, kann nicht beantwortet werden. Bei der Anpassung von Hörsystemen besteht die Aufgabe des Hörakustikers deshalb seit jeher darin, aus dem Dialog mit dem Nutzenden die verborgenen Informationen zu extrahieren, die die diagnostischen Maßnahmen ergänzen und dann durch Kombination die Personalisierung des Hörsystems zu ermöglichen. Diese gilt als erfolgreich, wenn die Verstärkung komfortabel und effektiv sowie das Timbre dabei angenehm und informativ ist.

Unter anderem mit den neuen digitalen Möglichkeiten der Datenprotokollierung in den Hörsystemen und über Smartphones können die tatsächlichen Klangumgebungen im Alltag der Menschen berücksichtigt werden. Durch die mit dem Smartphone verbundenen Systeme etwa können In-situ-Bewertungen und Kommentare des HG-Tragenden aufgenommen und zusammen mit den objektiven Daten des Hörsystems ausgewertet werden. Der wohl wichtigste Aspekt dabei ist, dass die realen Daten den Zusammenhang zwischen klinischen Messungen und realen Ergebnissen erklären helfen. Somit bietet personalisierte Audiologie die Möglichkeit der Überprüfung in einem klinischen Test und die Übertragbarkeit in die Praxis.

2. Erwartungskontrolle von Hörsystemen

Es hört nicht nur jeder Mensch unterschiedlich, jeder hat auch unterschiedliche Erwartungen an Hörsysteme; erschwerend kommt hinzu, dass diese Erwartungen sich permanent ändern können. So finden wir uns manchmal in lauten Restaurants wieder und möchten uns auf die Person vor uns konzentrieren, während wir in anderen Situationen lieber der Hintergrundmusik lauschen wollen. Eriksholm widmet sich der Weiterentwicklung der Hörgerätetechnologie, indem es Systeme untersucht, die sowohl Kontextbewusstsein (in Bezug auf die Umgebung des Benutzers) als auch Absichtsbewusstsein (in Bezug auf den gewünschten Fokus des Benutzers) ermöglichen. Im Fokus stehen dabei neuartige Sensortechnologien, die möglicherweise in zukünftige Hörgeräte integriert werden können. Ein Beispiel wäre die Platzierung von Gehörgangselektroden, um die Blickrichtung des Benutzers abzuschätzen und damit eine Optimierung in diese Richtung zu steuern.

3. Kompensation des kognitiven Höraufwands oder die Leichtigkeit des Hörens

Hören ist anstrengend. Dies gilt schon für Normalhörende, für Menschen mit Hörverlust umso mehr. Selbst mit modernen Hörsystemen erleben viele, dass sie früh ermüden, die Hörsysteme ausschalten oder gar schlafen möchten. Aus diesem Grund ist die Senkung des Höraufwands von jeher ein zentraler Forschungsgegenstand. Seit fast einem Jahrzehnt forscht Eriksholm in diesem Bereich unter anderem mithilfe objektiver Analyseverfahren, zum Beispiel a) Pupillometrie – als Reaktion auf Höranstrengung wird per Kamera eine Änderung des Pupillendurchmessers gemessen; b) Elektroenzephalografie (EEG) – Hirnströme zeigen, welche Gehirnregionen wie stark in neuronale Prozesse eingebunden sind und erlauben so Rückschlüsse auf die Höranstrengung; c) funktionale Nahinfrarot Spektroskopie (fNIRS) – sie soll Aufschluss geben, welche Prozesse in der Hörsystem-Signalverarbeitung welche Reaktionen im Gehirn auslösen.

Ziel all dieser Analysen ist es, durch entsprechende Maßnahmen die Höranstrengung weiter zu senken und dem Gehirn beim Zuhören freie Ressourcen für die inhaltliche Verarbeitung des Gehörten zu schaffen. Dies, so die Annahme, hätte maßgeblich positiven Einfluss auf die Lebensqualität.

Die Rolle von Probanden für die Forschung

In hochtechnisierten Soundstudios werden verschiedenste Testszenarien unter Laborbedingungen durchgeführt. Mit Kunstköpfen, aber vor allem auch mit echten Menschen, denn sie stehen, wie oben bereits erwähnt, an erster Stelle – und sie weisen den Forscher:innen den Weg: Was klingt angenehm und natürlich? Was bietet einen Vorteil beim räumlichen Hören, bei der Leichtigkeit des Hörens, bei der Verbesserung der Merkfähigkeit? Was erleichtert das Verstehen von Sprechern aus unterschiedlichsten Richtungen? Dabei ist es sehr wichtig, dass sich die positive Erfahrung in möglichst allen Alltagsituationen einstellt, nicht nur in Laborexperimenten. Um dies sicher zu stellen, wird in Eriksholm mit einem großen Pool von hunderten schwerhörigen Probanden gearbeitet, die in der Umgebung leben, so dass sie zu den Untersuchungen leicht anreisen können.

Das Team der Wissenschaftler wiederum ist inzwischen auf ca. 40 angewachsen, ergänzt um viele Praktikanten, Studenten und Doktorranden. Um einen holistischen Anspruch in der Forschung erfüllen zu können, sind in Eriksholm unter anderem Audiologen, Mediziner, Medizintechniker, Neurologen, Biomediziner, Psychologen, Psychoakustiker, Physiker, Philosophen, Ingenieure und IT-Experten aktiv.